Matreszenz – Mutter werden als Prozess zu akzeptieren, hilft der Psyche
Hormone die verrückt spielen, ein Körper der sich verändert… Wenn wir da ganz genau hinsehen, dann merken wir, dass die Parallelen zwischen der Pubertät und dem Mutterwerden einige sind. Und für diese ganz spezielle Phase im Leben einer Frau gibt es sogar einen Begriff: Matreszenz.
Wie lange dauert es, Mutter zu werden? Sind es die neun Monate, bis hin zur Geburt des Kindes? Oder ist es eigentlich nur ein Moment, nämlich jener, in dem man das eigne Kind zum ersten Mal sieht? Und was macht uns eigentlich zu Müttern? Sind es unsere Kinder oder ist es die Wesensveränderung, die damit einhergeht? Klar ist: Dieses Mutterwerden ist ein Prozess. Eine Phase, die bislang ironischerweise kaum erforscht wurde, die aber im amerikanischen Raum unter dem Begriff „Matrescence“ fällt. Genauso wie die Pubertät (im englischen „adolescence“) ist Matreszenz nämlich ein Zeitraum, der mit großen hormonellen Veränderungen einhergeht.
Woher kommt der Begriff Matreszenz?
Der Begriff Matreszenz wurde geprägt von der Anthropologin Dana Raphael in den 70er Jahren, weltweit Aufmerksamkeit erhielt er aber erst 2008 durch die beiden Psychologinnen Aurélie Athan und Alexandra Sacks. Muttertät beschreibt den Übergang von einer Frau zur Mutter und die emotionalen, psychischen sowie gesellschaftlichen Veränderungen, die mit dem Mutterwerden einhergehen. In dieser Entwicklungsphase durchleben viele Frauen eine Vielzahl von Herausforderungen und Bedürfnissen, die oft nicht ausreichend anerkannt oder unterstützt werden. Das Wohlbefinden der frischgebackenen Mütter ist entscheidend für ihre psychische Gesundheit, insbesondere in der postpartum Phase, wenn sie sich an die Elternschaft und die neuen Anforderungen des Stillens und der Kinderbetreuung anpassen müssen.
Das Konzept der Matreszenz erkennt an, dass mütterliche Identität nicht einfach entsteht, sondern ein Prozess ist, der emotional und wissenschaftlich betrachtet werden muss. Fest steht, dass frischgebackene Mütter auch auf psychologischer Ebene Unterstützung dabei benötigen, diesen Übergang zu meistern – nicht nur bei den eher praktischen Dingen wie Geburt und dem Stillen. Die Akzeptanz dieser neuen Lebensphase ist entscheidend, um das Empowerment von Frauen in der Mutterschaft zu fördern und die Herausforderungen, die oftmals dann mit der Adoleszenz des Kindes einhergehen, besser zu bewältigen. So wird die Matreszenz zu einem wichtigen Konzept, das das Wohlbefinden aller Mamas und Kinder unterstützt.
Darum ist es so wichtig, den Begriff der Muttertät zu kennen und zu erforschen
Natalia Lamotte ist zusammen mit ihrer Schwester Sarah Galan Teil der „Schwesterherzen Doulas“ in München. Die beiden begleiten Frauen als Doula in der Schwangerschaft, bei der Geburt sowie danach im Wochenbett und setzen sich stark dafür ein, dass der Name Matrescence – oder „Muttertät“, wie sie ihn nennen – jedem ein Begriff wird.
Luna mum: Natalia, wieso glaubst du, dass Matreszenz nicht weitgehender erforscht ist?
Natalia Lamotte: Grundsätzlich sind Themen, die Frauen betreffen, in der Wissenschaft unterrepräsentiert. Genauso ist es auch bei der Matreszenz, da wird der Interessentenkreis noch kleiner, weil sich dieses Thema nur mit Frauen, die Mütter sind, beschäftigt. In den meisten Gesellschaften schweift ab der Geburt der Fokus von der Frau auf das Kind ab. Ein Beispiel dafür sind auch die Vielzahl der U-Termine beim Neugeborenen versus den einzigen postpartalen Nachsorgetermin für die Mutter bei der Gynäkologin nach sechs Wochen.
Was zeichnet diese besondere Phase von der Frau zur Mutter aus?
Natalia Lamotte: Die Phase der Muttertät ist geprägt von hormonellen, körperlichen, sozialen und auch die eigene Persönlichkeit betreffenden Veränderungen. So wie ein Jugendlicher nach der Pubertät nie wieder Kind sein wird, genauso wird eine Mutter nie wieder zur Nicht-Mutter. Sie wird sich vielleicht ab und an, wenn sie ohne Kinder unterwegs ist, kurz so fühlen, aber nicht mehr dauerhaft. Elternschaft erweitert unsere Gefühlsskala, und zwar in beide Richtungen. Wir fühlen die Höhen „höher“ und die Tiefen „tiefer“. Am herausforderndsten ist aber, dass diese Gefühle sich manchmal innerhalb von Sekunden abwechseln. Das kennen viele Mütter sonst nicht von sich. Sehr erschrocken sind viele auch von der enormen Wut, die sie plötzlich verspüren können. Typisch für die Phase ist auch die Gleichzeitigkeit von Emotionen. Sowohl das Baby bei sich haben zu wollen, als auch Zeit für sich zu brauchen. Die Zeit mit dem eigenen Kind wahnsinnig anstrengend zu finden und es nicht missen zu wollen. Da aber wenig über „negative“ – oder sagen wir lieber alle – Gefühle von Müttern gesprochen wird, denken die meisten Frauen, sie wären damit allein.
Wann setzt Matrescence ein?
Natalia Lamotte: Die Veränderungen beginnen bereits in der Schwangerschaft, selbst bemerken Frauen es eher gegen Ende des ersten Jahres mit Baby, manche auch später. Es fällt auf, dass besonders Erstmütter anfangs häufig versuchen sich gegen die Veränderungen zu wehren. Sie wollen möglichst schnell wieder die „Alte“ sein. Das macht es natürlich noch schwieriger, und sorgt für Frustration. Je eher wir akzeptieren, dass diese Erfahrung uns ändern wird und dass das auch gut ist, weil wir ein Upgrade erleben werden, um so besser kommen wir damit klar und umso mehr Mitgefühl haben wir für uns und andere.
Und wie lange kann die Phase dauern?
Natalia Lamotte: Am extremsten fühlen Frauen die Muttertät in den ersten Jahren nach der Geburt, und zwar nach jeder Geburt. Forscher aus Holland konnten anhand von MRT Bildern so signifikante Veränderungen im Gehirn feststellen, dass ein Computer mit 100 %iger Sicherheit zwischen den Gehirnbildern von Müttern und Nicht-Müttern unterscheiden konnte. Diese Veränderungen waren auch zwei Jahre nach der Entbindung noch sichtbar. Spätere Analysen wurden bisher nicht gemacht, das bedeutet aber, dass der Prozess des Mutterwerdens mindestens über zwei Jahre andauert.
Wie bereitet ihr als Doula eure Schwangeren auf das Mutterwerden vor?
Wir sprechen mit unseren Frauen darüber, was sie erwarten können und wie sie sich am besten um sich kümmern können. Vor allem aber erwähnen wir ihnen gegenüber, dass es vollkommen normal ist, widersprüchliche Gefühle zu empfinden, ihr altes Leben zu vermissen, sich überfordert oder nicht gut genug zu fühlen… So geht es den meisten Müttern, auch wenn sie nicht darüber sprechen. Es ist also kein individuelles Empfinden, sondern ein gemeinschaftliches. Allein das Wissen darüber scheint den Frauen zu helfen, sich weniger schlecht zu fühlen.
Fazit: Der Weg zur Mutter ist weder geradlinig noch für jede Mutter gleich
Die Wissenschaft zeigt: Frauen werden nicht mit der Trennung der Nabelschnur eine Mutter. In dieser jahrelangen Umbruchphase passieren unheimlich viele Veränderungen – wilde, schöne, aufregende, skurrile und gruselige Dinge. Es braucht oft viel Zeit und ist immer individuell. Und da hilft nur ehrlicher Austausch über die Herausforderungen der Matreszenz. Anzuerkennen, dass dieser Wandel von einer Frau zur Mutter anstrengend ist, und zwar deshalb, weil Mutter werden anstrengend ist, nicht weil die Frauen etwas falsch machen. Frauen sind in ihrem neuen Leben als Mütter zwiegespalten, traurig, glücklich, wütend, bereuend, zufrieden, nichts fühlend. Sie sind all das und noch viel mehr. Und vielleicht ist die Geburt dieser Mama-Identität für einige noch eine Spur härter als jene im Kreißsaal.
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